Buch im Fokus #29 16.02.2025

Das Mysterium im Roggen

Der rote Keulenkopf ist ein Pilz, der lange Zeit nicht als solcher erkannt, sondern für eine Missbildung der Roggenähren gehalten wurde. Jahrhundertelang richtete er unerkannt – im Roggenmehl vermahlen – enorme Schäden an, seine toxischen Wirkstoffe verstümmelten und töteten abertausende Menschen. Frank Petersen erzählt in seinem auch in die Antike oder Kunstgeschichte ausgreifenden Sachbuch, wie die Menschen dem Mutterkorn, wie die toxische Form des Pilzes auch genannt wird, auf die Spur kamen und den therapeutischen Nutzen seiner Wirkstoffe entdeckten, von denen einer den Weg zur Droge Lysergsäurediethylamid, besser bekannt als LSD, wies.  Lesen Sie mehr zu der lehrreichen wissenschafts- und kulturgeschichtlichen tour de force in «Buch im Fokus».

Autor: Frank Petersen
Untertitel: Mutterkorn und LSD - eine kulturhistorische Spurensuche
Verlag: Springer Berlin
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-662-69507-4
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 244
Sprache: Deutsch
MT Moritz T.

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Besprechung

Gleich vorweg: Der Autor Frank Petersen arbeitet als Leiter Naturstoffforschung bei Novartis, das Buch ist von Novartis teil-finanziert, und es gibt zwei «Geleitworte» von Novartis-Exponenten. Im Buch ist in der zweiten Hälfte viel von der Sandoz, einer der Novartis-Vorgängerfirmen, die Rede, die entscheidend zur pharmakologischen Verwertung des roten Keulenkopfs (oder «Mutterkorns») beigetragen hat. Das Buch ist aber weit mehr als eine Novartis-Festschrift.

Über viele Jahrhunderte breitete sich bei feuchtem, warmem Wetter der Mutterkornpilz stark aus in den Roggenfeldern. In manchen Jahren gab es in den Anbaugebieten Europas darum nur wenige Erkrankungen durch den Pilz, in anderen aber starben sehr viele Menschen. Man konnte sich keinen Reim auf diese Seuchen machen. Wenn die Menschen keine Ursachen erkennen, erfinden sie welche. Die Seuche wurde als Gottesstrafe gesehen oder als Hexenwerk. Es ist beelendend nachzulesen, dass es eine Korrelation gibt zwischen Seuchenjahren und steigender Anzahl von Hexenprozessen. Auch indirekt forderte das Mutterkorn Opfer.

Petersen erzählt, wie die Menschen nach und nach den Grund für die Erkrankungen erkannten (zuerst im Frankreich des 17. Jahrhunderts) und dann in wissenschaftlicher Detektivarbeit die toxischen Rätsel des roten Keulenkopfs in minutiöser Forschungsarbeit lösten, und die Wirkstoffe des Pilzes für medizinische Zwecke zu nutzen begannen. Das Wissen um therapeutische Effekte des Mutterkorns ist dabei schon sehr alt. Aber erst im 19. und 20. Jahrhunderts verstand man die Zusammensetzung und die Effekte der Alkaloide. Die Beschäftigung mit dem Mutterkorn hat mehrere Nobelpreise gezeitigt, nicht nur in Medizin und Physiologie, sondern auch in Chemie.

Nicht zuletzt trug die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Alkaloiden dazu bei, die Funktionsweise der menschlichen Psyche besser zu begreifen. Eine Krankheit wie Autismus war lange Zeit ein Stigma für betroffene Familien, die Schuld wurde gern «Kühlschrank-Müttern» gegeben, die dem Kind angeblich emotionale Zuwendung verweigerten. Erst nach 1950 verstand man allmählich die neurophysiologischen Zusammenhänge psychischer Krankheiten und die Rolle der Neurotransmitter in mentalen Vorgängen. Ein Ausgangspunkt für diese Revolution in der Psychiatrie war die Entdeckung von Lysergsäurediethylamid, oder kurz LSD, einem Derivat eines Mutterkornalkaloids, durch den Sandoz-Mitarbeiter Albert Hoffmann.

Eine Pointe im Umgang mit dem Mutterkorn: Jahrhundertelang hatte das Mutterkorn Verheerungen angerichtet. Erst im 18. und 19. Jahrhundert setzte sich die Erkenntnis durch, dass man das Mutterkorn bei der Roggenernte rigoros aussortieren muss. Als Sandoz im 20. Jahrhundert das ökonomisch-pharmakologische Potential der Mutterkorn-Alkaloide erkannte, kam es bald zu Lieferengpässen. Die Sandoz versuchte nun beispielsweise im Emmental den mit Mutterkorn durchimpften Roggenanbau zu forcieren. Nur zu verständlich, dass die Pharmafirma damit zunächst bei Bauern auf Unverständnis und Skepsis stiess.

Petersen deckt in konziser Weise ein breites Themen-Spektrum ab. Er widmet sich den Krankheitsbildern des «Antoniusfeuers», wie die Krankheit über Jahrhunderte genannt wurde, oder schildert, wie der Antoniterorden sich auf die Bekämpfung der Seuche spezialisierte, und Grünewalds Gemälde des Isenheimer Altars ganz in deren Zeichen steht. Erst recht in seinem Element ist der Autor, von Haus aus Biologe, wenn es um den komplexen Lebenszyklus des Pilzes geht, der sich als geduldeter Parasit in den Gräsern einnistet.

Das Buch ist aus einer Artikelserie in der Fachzeitschrift «Chemie in unserer Zeit» hervorgegangen. Der Verwandlung zu einem auch Laien ansprechenden Sachbuch ist nicht ganz geglückt, dafür hätte etwas mehr in die Didaktik (etwa in die Definition der Begriffe, Erklärung der Abbildungen) investiert werden müssen. Die Lektüre der Kapitel mit Fokus auf die pharmakologische Verwertung des Mutterkornpilzes und die chemischen Interaktionen der Wirkstoffe ist sehr anspruchsvoll.

Trotz dieser Abstriche ist das Buch empfehlenswert, weil man auf knapp 250 Seiten sehr viel lernt und einem vorgeführt wird, wie intrikat die Zusammenhänge sind, in die wir Menschen eingebunden sind. Es ist sicher klug vom Autor, dass er ganz zum Schluss konstatiert, dass die Geschichte von Rotem Keulenkopf und Mensch noch nicht zu Ende erzählt ist.

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