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Besprechung
Im Café du Commerce beobachten Vater und Tochter eine Zigeunerin, die ihr kleines Morgentheater aufführt, hinreissend geschildert. Dicht und intensiv die Erzählung, auch weil der Ich-Erzähler sich mit Phantasie in andere Menschen, Tiere und Dinge hineinversetzt. Immer wieder sieht der Erzähler die Welt mit den Augen Carinas, sie verdoppelt quasi die Weltsicht des Autors, der gierig alles Geschehen aufnimmt und in Notizen festhält, um die verrinnende Zeit aufzuhalten. Der Text ist eine einzige grosse Meditation über die Zeit, die häufig einen «Ruck» macht, anstatt still zu halten. Immer wieder versichert sich der Ich-Erzähler, dass der Sommer noch lange ist, oder der Tag. «Dass alles vergeht, wie soll man das aushalten?»
Die Reise in den französischen Süden und dann wieder heim nach Frankfurt legen der Ich-Erzähler mit seiner Partnerin Sibylle und Carina per Autostopp zurück – die ideale Daseinsform für den Ich-Erzähler: «Beim Trampen ist immer jetzt.» Das Autostoppen «der heiligen Familie mit Landkarte» führt zu immer neuen Begegnungen, zu unerwarteten Orten, stets erhöhte Aufmerksamkeit. Die Intensität lässt etwas nach, wenn die Familie zurück ist in Frankfurt, im Vergleich zu den leuchtenden Kapiteln aus Südfrankreich; vielleicht unvermeidlich, weil auch die Aufmerksamkeit im Alltag eine andere ist. Dennoch vollbringt das Buch die Leistung, dem Frankfurter Alltag der 1980er Jahre Bilder abzugewinnen, die einem diese Stadt näherbringen, mit all den Kneipen, den Supermärkten und unwirtlichen Vorstädten, den Pennern, den «Nachtinsekten». Der Protokollstil bewährt sich nicht nur im provenzalischen Idyll. Zwischendurch bricht die Familie aus, und sei es nur in die Nachbarstadt Offenbach oder ins nahe Franken (natürlich trampend), sofort erhöhte Dichte der Beobachtung.
Der Ich-Erzähler, 40 Jahre alt, arbeits- und mittellos, reflektiert seine gesellschaftliche Stellung, wenn die Familie in einem Neubauquartier nach einem Gästezimmer sucht, oder wenn ein BMW-Fahrer die Tramper zum Mittagessen ins noble Restaurant einlädt: da passen wir nicht hin. Mit Komik sucht der Ich-Erzähler seiner Abhängigkeit vom Arbeitsamt beizukommen, in gekonnter Übertreibung setzt er Versatzstücke aus der Behördensprache ein. Die «Obrigkeit» ist dem Ich-Erzähler sowieso suspekt, da kann der Text kurz auch polemisch werden. Politische Motive bleiben aber im Hintergrund.
Es wird die Geschichte zweier Sommer in der Rückblende erzählt, bevor die Familie auseinandergerissen wurde – Sybille trennt sich vom Ich-Erzähler. Wobei dann immer wieder in diesen Rückblenden weiter zurückgeblendet wird, etwa in die Kindheit des Ich-Erzählers, von der er der Tochter Carina erzählt.
Das Manuskript wurde aus dem Nachlass herausgegeben, Peter Kurzeck ist 2013 gestorben. Anfang und Ende wären bestimmt vom Autor nochmals anders gestaltet worden, kompositorisch ist das Buch nicht im Gleichgewicht. Es gibt auch Passagen, die einem arg lang vorkommen, etwa wenn der Ich-Erzähler einen Schreibstau schildert. Aber meist bleibt man als Leser gern dabei, lässt sich gefangen nehmen von der Wahrnehmungserotik, mit der der Erzähler die langen, und bei allen materiellen Sorgen glücklichen Sommer beschreibt.