Autor:
Dorothee Elmiger
Verlag: Hanser
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2025
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-446-28298-8
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 160
Sprache: Deutsch
BP
Bettina P.
Bewertungen
Besprechung
Der Roman setzt mit einer verhinderten Poetikvorlesung ein, die den Rahmen der Erzählung bildet. Eine namenlose Autorin soll eine Einführung in ihr Werk geben. Dies sei ihr jedoch nicht möglich, deutet die Schriftstellerin an, weil sie sich in einer Art Schreibblockade befinde. Das Schreiben verweigere sich ihr, anstelle von Schrift erscheinen Bilder und Zeichen. Sie beobachte ein Auseinanderfallen, einen «Prozess der Auflösung» in ihrem Schaffen. Der ungeordnete Stapel von Notizblättern vor ihr auf dem Rednerpult zeugt davon. Die Notizen sind die «Relikte einer Reise», von der sie nun über mehrere Wochen berichtet – und dies wie schon Hoffmansthals Lord Chandos angesichts ihrer Sprachkrise äusserst eloquent.
Die Autorin wurde von einem «Theatermacher» angefragt, ob sie zusammen mit einer ausgewählten, internationalen Gruppe an einem Projekt teilnehmen wolle, das sie tief ins Innere des Dschungels Mittelamerikas führt. Dort seien vor einigen Jahren zwei junge Holländerinnen unter mysteriösen Umständen verschwunden und allem Anschein nach ums Leben gekommen. Sein Vorhaben sei es, diesen Fall zu rekonstruieren, ja «die Dinge am eigenen Leibe zu erfahren». Eine von ihr verfasste Geschichte des Auges prädestiniert die Autorin für die Rolle der Protokollantin. Sie soll in ihr Skript alles ausnahmslos aufnehmen, was die Teilnehmenden von sich geben, und gleichsam als Expertin für das hinter den Dingen Liegende das Verborgene sichtbar machen. Sie nimmt das Angebot an.
Das Unternehmen gestaltet sich zunehmend schwierig. Das Gebiet wird von einer Art atmosphärischer Störung beherrscht. Anhaltende Niederschläge verwandeln den Boden in einen Sumpf, in dem die Equipe auf ihren Gewaltmärschen auf den Spuren der Verschollenen ihrerseits zu versinken droht. Die der Erzählerin in der Lodge zugewiesene Holzhütte mit dem Namen «Nordwind» ist zu allen Seiten offen und nur durch dünne Netze von der Wildnis abgeschirmt. Sie bietet nachts kaum Sicherheit. «Immer mächtiger, immer massiver» dringt die Nacht auf sie ein, vom höllischen Lärmen fremdartiger Tiere durchdrungen. Die Natur tritt als «keuchender, dampfender Organismus» auf, in dem alles wächst, wabert, wuchert, lebt und stirbt. Diese Urgewalt und Fruchtbarkeit der Natur kennen wir beispielsweise aus Frischs «Homo Faber» oder aus Joseph Conrads «Heart of Darkness». Der Urwald erscheint darüber hinaus als Chiffre für die existentielle Bedrohung des Menschen, für die aus Kindertagen bekannten Urängste. Das Unheimliche ist nach Freud etwas, das ehemals vertraut war, durch den Prozess der Verdrängung jedoch entfremdet und dadurch beunruhigend geworden ist. Was dieses Verdrängte hier genau sein soll, bleibt jedoch im Dunkeln.
Die Abenteuer- oder True-Crime-Story bildet – wenn man die Rahmung des Vortrages ausnimmt – eine erste Handlungsebene. Die zweite nimmt das Erzählen selbst ein. Im kollektiven nächtlichen Geschichtenerzählen bannt die Truppe ihre Angst und rettet sich gleich einer Scheherazade in den nächsten Morgen. Solange der Faden – oder besser die Liane – der Erzählung nicht abreisst, muss keiner allein in seine Hütte gehen. Für den Theatermann sind diese Gespräche wichtiges Material für sein Kunststück. In welcher Weise sie mit der Haupthandlung themenmässig verbunden sind, erschliesst sich nicht auf Anhieb. Jedenfalls kreisen sie alle um Gewalt, Verletzung und Unterwerfung. Ein Unverständnis der Dinge zieht sich als roter Faden hindurch. Einzelne dieser Geschichten, die eine weitere Ebene der narrativen Verschachtelung darstellen, breiten sich auf rund zehn Seiten aus. Abschweifen und vom Weg abkommen ist in diesem Text sowohl inhaltlich als auch poetologisch Programm. Charakteristisch für Elmigers Schreiben sind ebenso die zahlreichen intertextuellen Verweise, etwa auf die Frankfurter Schule, die Psychoanalyse, die Filme Herzogs und Coppolas und auf vieles mehr. Etwas Durchhaltevermögen ist erforderlich.
Von den jungen Holländerinnen bleiben 91 merkwürdige Handyfotos zurück, auf denen so gut wie nichts zu erkennen ist. Einige wenige zeigen seltsame magische Zeichen, die vielleicht zu einem Ritual gehören. Was jenseits der Sprache liegt, rückt ins Zentrum. Der Drehbuchautorin kommt die Sprache zusehends abhanden, ihre Schrift zerfliesst. Der Roman benennt das Unaussprechliche. Es geht um die Lesbarkeit der Welt, oder eben um ihre Verschlüsselung.
Eine Enträtselung oder Auflösung des Falls am Ende darf bei Elmiger nicht erwartet werden. Bemüht sie den Zeitgeist, wenn sie auf «tödliche Verhältnisse» verweist, angesichts derer wir uns in keiner bequemen Eindeutigkeit einrichten dürfen? Die Erzählerin bricht das Dschungel-Experiment ziemlich abrupt ab und rettet sich in die Zivilisation. Auf der letzten Seite, einer Art Epilog, tritt man mit ihr aus dem Dickicht heraus – und reibt sich die Augen. Im gleissenden, sirrenden Licht öffnet sich im Himmel ein Spalt, ein Portal. Wir wähnen uns unvermittelt in «A Space Odyssey» oder «Arrival» – und meinen mit Taylor Swift: «I think I have seen this film before and I didn’t like the ending.»
Mehr zeigen...
Die Autorin wurde von einem «Theatermacher» angefragt, ob sie zusammen mit einer ausgewählten, internationalen Gruppe an einem Projekt teilnehmen wolle, das sie tief ins Innere des Dschungels Mittelamerikas führt. Dort seien vor einigen Jahren zwei junge Holländerinnen unter mysteriösen Umständen verschwunden und allem Anschein nach ums Leben gekommen. Sein Vorhaben sei es, diesen Fall zu rekonstruieren, ja «die Dinge am eigenen Leibe zu erfahren». Eine von ihr verfasste Geschichte des Auges prädestiniert die Autorin für die Rolle der Protokollantin. Sie soll in ihr Skript alles ausnahmslos aufnehmen, was die Teilnehmenden von sich geben, und gleichsam als Expertin für das hinter den Dingen Liegende das Verborgene sichtbar machen. Sie nimmt das Angebot an.
Das Unternehmen gestaltet sich zunehmend schwierig. Das Gebiet wird von einer Art atmosphärischer Störung beherrscht. Anhaltende Niederschläge verwandeln den Boden in einen Sumpf, in dem die Equipe auf ihren Gewaltmärschen auf den Spuren der Verschollenen ihrerseits zu versinken droht. Die der Erzählerin in der Lodge zugewiesene Holzhütte mit dem Namen «Nordwind» ist zu allen Seiten offen und nur durch dünne Netze von der Wildnis abgeschirmt. Sie bietet nachts kaum Sicherheit. «Immer mächtiger, immer massiver» dringt die Nacht auf sie ein, vom höllischen Lärmen fremdartiger Tiere durchdrungen. Die Natur tritt als «keuchender, dampfender Organismus» auf, in dem alles wächst, wabert, wuchert, lebt und stirbt. Diese Urgewalt und Fruchtbarkeit der Natur kennen wir beispielsweise aus Frischs «Homo Faber» oder aus Joseph Conrads «Heart of Darkness». Der Urwald erscheint darüber hinaus als Chiffre für die existentielle Bedrohung des Menschen, für die aus Kindertagen bekannten Urängste. Das Unheimliche ist nach Freud etwas, das ehemals vertraut war, durch den Prozess der Verdrängung jedoch entfremdet und dadurch beunruhigend geworden ist. Was dieses Verdrängte hier genau sein soll, bleibt jedoch im Dunkeln.
Die Abenteuer- oder True-Crime-Story bildet – wenn man die Rahmung des Vortrages ausnimmt – eine erste Handlungsebene. Die zweite nimmt das Erzählen selbst ein. Im kollektiven nächtlichen Geschichtenerzählen bannt die Truppe ihre Angst und rettet sich gleich einer Scheherazade in den nächsten Morgen. Solange der Faden – oder besser die Liane – der Erzählung nicht abreisst, muss keiner allein in seine Hütte gehen. Für den Theatermann sind diese Gespräche wichtiges Material für sein Kunststück. In welcher Weise sie mit der Haupthandlung themenmässig verbunden sind, erschliesst sich nicht auf Anhieb. Jedenfalls kreisen sie alle um Gewalt, Verletzung und Unterwerfung. Ein Unverständnis der Dinge zieht sich als roter Faden hindurch. Einzelne dieser Geschichten, die eine weitere Ebene der narrativen Verschachtelung darstellen, breiten sich auf rund zehn Seiten aus. Abschweifen und vom Weg abkommen ist in diesem Text sowohl inhaltlich als auch poetologisch Programm. Charakteristisch für Elmigers Schreiben sind ebenso die zahlreichen intertextuellen Verweise, etwa auf die Frankfurter Schule, die Psychoanalyse, die Filme Herzogs und Coppolas und auf vieles mehr. Etwas Durchhaltevermögen ist erforderlich.
Von den jungen Holländerinnen bleiben 91 merkwürdige Handyfotos zurück, auf denen so gut wie nichts zu erkennen ist. Einige wenige zeigen seltsame magische Zeichen, die vielleicht zu einem Ritual gehören. Was jenseits der Sprache liegt, rückt ins Zentrum. Der Drehbuchautorin kommt die Sprache zusehends abhanden, ihre Schrift zerfliesst. Der Roman benennt das Unaussprechliche. Es geht um die Lesbarkeit der Welt, oder eben um ihre Verschlüsselung.
Eine Enträtselung oder Auflösung des Falls am Ende darf bei Elmiger nicht erwartet werden. Bemüht sie den Zeitgeist, wenn sie auf «tödliche Verhältnisse» verweist, angesichts derer wir uns in keiner bequemen Eindeutigkeit einrichten dürfen? Die Erzählerin bricht das Dschungel-Experiment ziemlich abrupt ab und rettet sich in die Zivilisation. Auf der letzten Seite, einer Art Epilog, tritt man mit ihr aus dem Dickicht heraus – und reibt sich die Augen. Im gleissenden, sirrenden Licht öffnet sich im Himmel ein Spalt, ein Portal. Wir wähnen uns unvermittelt in «A Space Odyssey» oder «Arrival» – und meinen mit Taylor Swift: «I think I have seen this film before and I didn’t like the ending.»
Ein grossartiges Buch: ganz dünn, aber dicht und intensiv – viel zum recherchieren, nachlesen… – unsere Favoriten für den Schweizer Buchpreis!