Buch im Fokus #4 18.12.2023

Entangled Life

Die Pilzsaison ist längst vorüber. Zeit, sich hinter dem warmen Ofen einem Buch über die Lebewesen zu widmen, die lange den Pflanzen zugeordnet wurden, nach heutigem Verständnis neben Pflanzen und Tieren aber ein eigenes Reich bilden. Merlin Sheldrake taucht in «Entangled Life» tief in dieses Reich der Pilze ein, über das wir immer noch relativ wenig wissen, obwohl Pilze seit Urzeiten eine tragende Rolle auf unserem Planeten spielen: Immerhin weist das älteste bisher bekannte Pilzfossil ein Alter von 715 bis 810 Millionen Jahre auf: Pilze sind älter als gedacht – wissenschaft.de Pilze waren die ersten Organismen, die die Erde besiedelt haben; sie sind aber mit späteren Lebewesen, unter anderem auch dem Menschen, vielfältige Kooperationen eingegangen. «Entangled Life» ist nicht nur für Pilzsammler eine horizonterweiternde Lektüre.

Deutsche Ausgabe: https://shop.buchhandlung-labyrinth.ch/catalogue/verwobenes-leben_27639636

 

Autor: Merlin Sheldrake
Untertitel: How fungi make our worlds, change our minds and shape our futures
Verlag: The Bodley Head
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2020
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 9781847925206
Auflage: 4.
Einbandart: Softcover
Seitenzahl: 358
Sprache: Englisch
MT Moritz T.

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Besprechung

Merlin Sheldrake ist ein Biologe, der in diesem Buch für ein interessiertes Laienpublikum über seine Faszination für die Pilze schreibt. Er taucht mit allen Sinnen tief in die höchst facettenreiche Welt der Pilze ein und nimmt den Leser mit auf die Reise: Zum Zubereiten und Trinken von – mit Hefepilzen vergorenem – Cider, auf die Trüffelsuche, in den Walduntergrund, in Labors, aber er spekuliert auch darüber, was es heissen könnte, ein Pilz zu sein. Trotz seiner persönlichen Begeisterung und gelegentlich esoterischen Ideen – was bei einem Untersuchungsobjekt, das dank seiner Wirkstoffe wie Psilocybin wenig genutzte Hirnareale und -verbindungen aktivieren kann, vielleicht verständlich ist – behält der Autor eine ausgewogene Perspektive bei. Er schreibt ein wissenschaftliches Sachbuch, das auf eine Vielzahl von spannenden Fakten und Fragen eingeht.
Das Feld der Mykologie ist ein weites: Es reicht von Schimmel und Hefe über Flechten, Trüffel und (höchst giftige) Waldpilze bis hin zum Einsatz von Pilzen zum Abbau von Schadstoffen, oder Pilzen als umweltfreundlichen Rohstoff für Verpackungen und Möbel. Etwas ausgeblendet werden in der enthusiastischen Rundschau Sheldrakes Pilze auf Haut oder im Darm des Menschen, und die vielfältigen Formen von Pilzinfektionen.
Pilze sind Pioniere bei der Besiedlung von Lebensräumen, sie breiteten sich vor Pflanzen und Tieren auf der Landmasse der Erde aus, Pilze zählen aber auch zu den ersten Lebewesen, die eine neu entstandene Vulkaninsel besiedeln. Bestimmt sind schon Vorfahren des Homo sapiens auf die eine oder andere Weise jenseits der Ernährung mit Pilzen in Berührung gekommen; ein archäologischer Fund deutet darauf hin, dass Neandertaler bereits vor 50’000 Jahren um die antibiotische Wirkung von bestimmten Pilzen gewusst haben. In vielen menschlichen Kulturen haben Pilze – auch als Rauschmittel – schon früh eine Rolle gespielt; umso erstaunlicher, wie wenig wir bis heute über Pilze wissen. Zitat aus Pilze sind älter als gedacht - wissenschaft.de: «Schätzungen zufolge kennen wir erst zwischen zwei und acht Prozent aller Pilzarten.»
Pilze sind Meister der Kooperation, sei das in der Flechte, von der man lange nicht verstanden hat, dass sie aus Pilzen und Algen besteht, oder – anderes Beispiel – im Waldboden: 90 Prozent aller Pflanzen koexistieren mit Pilzen, die beispielsweise Bäume untergründig miteinander verbinden und Stoffe hin- und hertransportieren. Dieses Wood Wide Web ist noch weitgehend unerforscht, und im Übrigen wissenschaftlich auch nicht unumstritten, aber der Leser wird nach der Lektüre einen Wald anders betreten, auch wenn er intuitiv schon immer gewusst hat, dass er sich nicht in einer blossen Ansammlung von Baumindividuen befindet. Bei Schädlingsbefall, so geht eine These, senden Pflanzen sogenannte Infochemicals aus, die via Pilznetzwerk andere Pflanzen erreichen, die sich dann für einen Befall wappnen können. Und Pilze haben bei der Nährstoffversorgung von Bäumen eine entscheidende Funktion. Das Zusammenleben von Pflanzen und Pilzen ist aber nicht immer nur gedeihlich. Es ist eine eindrückliche Lektion von Sheldrakes Buch, dass sich eine Koexistenz über die Zeit in einem Spektrum von (scheinbar) altruistisch (ein Partner lässt den anderen profitieren, ohne offensichtliche Gegenleistung) über mutualistisch (für beide Seiten von Vorteil) zu parasitär (mit möglicherweise tödlichen Folgen für einen Partner) bewegen kann. Pilze sind nicht primär Diener oder Schmarotzer. Der Pilz verfolgt seine eigene Strategie.

Mykologie hat lange ein Schattendasein geführt, viele Forschungsfragen bleiben unbeantwortet. Das Nischenfach zieht spezielle Typen an; Sheldrakes Buch ist auch eine Serie von Portraits von Wissenschaftlern, die sich mit Leib und Seele den Pilzen widmen, aber auch von Amateuren, die dem Ideal des citizen scientists, des Bürger-Wissenschaftlers, nahekommen. Die Pilzfreaks bilden – Sheldrake kann der Metapher nicht widerstehen – ein sich ausbreitendes Netzwerk, durch das Informationen fliessen, ganz dem Vorbild des Untersuchungsgegenstands entsprechend.

Deutsche Ausgabe: https://shop.buchhandlung-labyrinth.ch/catalogue/verwobenes-leben_27639636/
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