Buch im Fokus #9 08.04.2024

Lektionen

Immer wieder reflektiert der britische Autor Ian McEwan in seinen Romanen Themen, die die Gesellschaft gerade beschäftigen. Ausgangspunkt der 2022 erschienenen «Lektionen» ist ein sexueller Missbrauch, den Roland Baines als Schüler in den frühen 1960er Jahren erleidet. Inwieweit prägt die Erfahrung das krisenanfällige (Liebes-) Leben des Helden? Zentrale Frage im Hintergrund dieses vielschichtigen Romans, der entlang der Biographie Baines’ auch einige markante zeithistorische Ereignisse verhandelt.

 

– Zitat & Kommentar #6 gibt einen kleinen Einblick in den umfangreichen Briefwechsel Sigmund Freuds mit seiner Braut Martha Bernays.

Dieses Buch wird besprochen in: Grossbritannien BESTELLEN
Partner-Buchhandlung Labyrinth, Basel
Autor: Ian McEwan
Verlag: Diogenes
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2022
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-257-07213-6
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 720
Sprache: Deutsch
Originaltitel: Lessons
Originalsprache: Englisch
Übersetzung: Bernhard Robben
BP Bettina P.

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Inhalt

Zugänglichkeit

Ausstattung

Besprechung

McEwans ambitionierter Roman schildert das Leben des Roland Baines, wobei den geschichtlichen Begebenheiten im Hintergrund fast ebenso viel Bedeutung beigemessen wird. Das Zeitgeschehen faltet sich detailreich auf – der Bogen spannt sich von der Kindheit in Libyen über die Kubakrise, Tschernobyl, dem Berliner Mauerfall bis zum Brexit. – Geschichtslektionen. Diese geraten zuweilen etwas langatmig und spiegeln sich nicht zwingend im Plot wider. Die Geschichte von Alissas Mutter Jane und ihrem Mann Heinrich im Umfeld der Weissen Rose erhält beispielsweise (zu) viel Raum. Und wie gelangt Baines just nach dem Mauerfall mitten ins Berliner Treiben? Hier wird dem Schicksal reichlich nachgeholfen, als Roland in den feiernden Massen ausgerechnet seine davongelaufene Frau Alissa wiedersieht. Erzählerisch fällt die einseitige Perspektivierung auf. Alissa bleibt als Figur seltsam blass und ungreifbar, nie werden die Dinge aus ihrer Sicht beschrieben. Was geht in einer Mutter vor, wenn sie sich entschliesst, Mann und Kleinkind zu verlassen, um sich als Schriftstellerin zu verwirklichen? Schwer nachvollziehbar, wie rigoros sie ihren Sohn später vor ihrer Türe abweist.

Wunderbar stimmig und vielversprechend werden die ersten Takte des Romans angeschlagen. Wie der Elfjährige – das Kaninchen vor der Schlange – neben der übergriffigen Lehrerin auf dem Klavierschemel sitzt, die ihm buchstäblich ihr Mal aufdrückt. Wie er weiss, dass hier Unerhörtes geschieht und sich dennoch nicht zu wehren imstande ist. Nach dem Verschwinden seiner Frau denkt Roland in zahlreichen Rückblicken über sein Leben nach.

Meisterlich erzählt, wie er als Vierzehnjähriger die sexuelle Initiation mit der zehn Jahre Älteren erlebt, aus der Zeit gefallene Wochen des Begehrens, intensiv prägend und ewig unverarbeitet. Liebeslektionen. Von grosser Eindringlichkeit sind die Bilder, die McEwan für diese gegenseitige fatal attraction findet: Der Junge als Liebesspielzeug im Haus gefangen, im Schlafanzug, denn seine Kleidung und seine ganze Habe wurden weggesperrt, um ihn am Weglaufen zu hindern. An mehreren Stellen wird nur angetönt, wie verstörend sich diese frühen erotischen Machtspiele auf Rolands spätere – allesamt, vielleicht mit Ausnahme von Daphnes, gescheiterte – Liebesverhältnisse auswirken mussten. Gescheitert ist nebenbei so vieles in Baines’ Leben: statt Konzertpianist wird er nur Pianospieler in einem Touristenlokal, statt gefeierter Dichter Verfasser von originellen Grusskarten. Später werden die Dinge beim Namen genannt: Missbrauch, der nun gerichtlich verfolgt werden könnte. Roland verzichtet auf eine Anklage, sucht seine Lehrerin aber ein letztes Mal auf, um sie zur Rede zu stellen. Auch mit der schwer kranken Alissa kommt es nochmals zu einer Begegnung. Meisterlich die Szene, in der sich die gealterten Liebenden versöhnlich milde zusammen betrinken – Lebenslektionen.
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