Buch im Fokus #21 25.10.2024

Long Island

Eine Frau, verheiratet, zwei Kinder im Jugendalter, ein geregeltes Leben in einer amerikanischen Kleinstadt nahe New York, gerät unversehens in einen emotionalen Tsunami, der ihr Leben auf den Kopf stellt, sie in ihre irische Heimat zurückführt und unerledigte Dinge aus ihrer Vergangenheit an die Oberfläche spült. Der neueste Roman „Long Island“ von Colm Tóibín ist ein grandioser Streifzug durch die Untiefen und Verstrickungen der menschlichen Psyche.

Dieses Buch wird besprochen in: Irland Ausleihen
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Autor: Colm Toibin
Verlag: Hanser
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-446-27947-6
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 320
Sprache: Deutsch
BH Berthold H.

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Besprechung

Colm Tóibín beherrscht die Kunst, aus einem einfachen Plot eine fesselnde Geschichte zu machen. Sie spielt in den 1970er Jahren in Long Island bei New York und in der Kleinstadt Enniscorthy im Südosten Irlands. Die Hauptfigur Eilis ist in die USA ausgewandert, wo sie seit mittlerweile 20 Jahren verheiratet ist mit Tony, der seinerseits mit seiner Grossfamilie aus Italien eingewandert ist und zwei Kinder mit ihr hat.
Von einem Tag auf den anderen gerät das Leben von Eilis aus dem Gleichgewicht. Sie muss eine Entscheidung treffen. Auch wenn sie ganz genau weiss, was sie nicht will, beginnt für sie ein quälendes Ringen. Sie nimmt sich eine Auszeit und reist in ihre Heimat, wo sie vordergründig ihre alte Mutter besucht, und unversehens wird sie dort mit ihrer irischen Vorgeschichte konfrontiert, ihrer Mutter, ihren Brüdern, ihrer besten Freundin Nancy und mit dem Pubbesitzer Jim. Ihr früheres Leben, von dem sie vor langer Zeit geflohen war, holt sie wieder ein, wo sie doch gerade auf der Flucht vor ihrem jetzigen Leben ist. Lebenspläne und Leidenschaft kreuzen sich, verschiedene Charaktere treffen aufeinander, ob sie Fakten schaffen, sich nicht entscheiden können oder alles einfach geschehen lassen – die Dinge spitzen sich immer weiter zu. Die Dramaturgie ist meisterhaft.
Der Roman, der mit Referenzen zu Tóibíns früheren Romanen „Brooklyn“ und „Nora Webster“ aufwartet, besticht mit seiner ruhigen, nüchternen Erzählweise, seinen Perspektivwechseln, seiner unprätentiösen Wiedergabe der Irrungen und Wirrungen der menschlichen Psyche, mit seiner feinen Ironie. Er dringt tief in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren ein, in ihre Wünsche, Nöte und Zweifel, die in sich jeweils stimmig wirken, auch wenn sie für den Leser teilweise befremdlich sein mögen. Das Schöne dabei ist, dass der Autor keine Partei ergreift, er geht respektvoll mit jeder seiner Figuren um – alle haben sie ihre Eigenheiten und Schwächen, niemand ist perfekt, und vor allem hat jeder eine eigene Persönlichkeit, ob es die gelegentlich intrigante italienische Schwiegermutter ist, der eigenbrötlerische Bruder oder der leicht verklemmte, gutmütige Jim. Tóibín flicht auf eine behutsame Art starke Dialogszenen ein, in denen mitunter die Unfähigkeit zu einem wirklichen Dialog treffend zum Ausdruck kommt. Es gibt herrliche Nebenfiguren wie die Dubliner Kleiderverkäuferin Metcalfe und wunderbare Schnappschüsse, etwa vom Tanz bei der Hochzeit („Nancy tanzte mit Matts Vater, der sie über das Parkett dirigierte, als steuerte er einen Traktor.“).
Tóibín kommt selbst aus Enniscorthy, er weiss, wovon er spricht, wenn er Land und Leute der irischen Provinz beschreibt, in der das Pub einer der Dreh- und Angelpunkte im Leben ist. Das Buch ist ein Vergnügen.

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