Buch im Fokus #16 19.08.2024

Toteninsel

Dies ist eine Einladung, Gerhard Meier zu lesen. Ein Schweizer Dorf am Jura-Südfuss steht im Zentrum der Tetralogie «Baur und Bindschädler». Anders als etwa Gottfried Keller oder Friedrich Dürrenmatt nimmt Meier das Schweizer Provinzleben nicht aus ironischer oder zynischer Perspektive aufs Korn. Meier beschreibt das Leben und Sterben in Amrain (alias Niederbipp) mit intensiver Zugewandtheit. Das Dorf ist für ihn der Kosmos, aus dem der Blick in ferne Länder oder Zeiten geht, und in dem Literatur und Kunst präsent sind und mit den lokalen Ereignissen verwoben werden. Ist Gerhard Meier ein Heimatschriftsteller? Ja, aber einer, der genau hinsieht, die Beschaulichkeit im Dorf ebenso schildert wie Tod oder Wahnsinn und also in der Heimeligkeit auch das Heimliche und Unheimliche aufspürt.  – Wir starten die Lektüre mit dem ersten Band der Tetralogie, mit «Toteninsel», nach und nach werden in der neu eingerichteten Lese-Gruppe Gerhard Meier : Lesart blog auch die anderen Bände diskutiert. **********

Für Gerhard Meier war Robert Walser einer der wichtigsten Schriftsteller; eine Zeile aus einem frühen Gedicht Walsers, das sich schon um die vorletzte Jahrhundertwende mit dem Los des Büroangestellten beschäftigte, ist Ausgangspunkt von «Zitat & Kommentar» #12.

Dieses Buch wird besprochen in: Gerhard Meier Ausleihen
Partner-Bibliothek GGG Stadtbibliothek Basel
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Partner-Buchhandlung Labyrinth, Basel
Autor: Gerhard Meier
Verlag: Suhrkamp
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-518-24352-7
Einbandart: broschiert
Seitenzahl: 133
Sprache: Deutsch
MT Moritz T.

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Inhalt

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Besprechung

Die Freunde Kaspar Baur und Rudolf Bindschädler spazieren durch Olten, durch das Industriequartier der Aare entlang, mit einem Kaffeehalt im unspektakulären EPA-Restaurant. Bindschädler berichtet von diesem Spaziergang und der Unterhaltung mit Baur.
Die Erzählung setzt ein mit Gedanken Baurs zur eigenen Lebensgeschichte, Erinnerungen an die «Jahrzehnte erfüllter Bürgerpflichten» – an dieser Stelle wird seine Rede erstmals durch ein hübsch lakonisches «Baur stolperte» unterbrochen –, all die Kleider, die man getragen hat, an Frau und Kinder. Aus dieser Vogelperspektive gleitet Baur in die Erinnerung an einen Besuch seiner drei Schwestern in Amrain, eine ersten Einführung in die Verwandtschaft Baurs und in die Amrainer Welt. Nach weiteren Abstechern in die Oltner Erzählgegenwart – Baur streicht mit der Hand über eine Plakatwand, die mit «99 Jahre Patria» für eine Versicherung wirbt: wir schreiben vermutlich das Jahr 1977 – taucht Baur tief in die Vergangenheit zu seinem Schulschatz Linda, um dann über Seiten zu schildern, wie sich in seinem Haus in Amrain einmal eine Schmeissfliege in Spinnennetzen verfing.
Die Erzählung bewegt sich auf kleinem Raum in den verschiedensten Ebenen, fast möchte man sagen mit der Virtuosität eines Kunstturners, wichtige Sportart in Amrain. Meier ist ein Meister der Durchlässigkeit; er lässt seinen Protagonisten Baur im Dorfleben Anknüpfungspunkte für Kunst finden – ein verhangener Tag verwandelt Amrain in ein Turner-Gemälde – oder für Ausflüge in die Literatur oder in die Geschichte: nicht hier das Dorf und da die Welt, sondern das Dorf ist die Welt.
Rosskastanien oder ein einzelnes Wort (Arakanga, Name eines Zoo-Hauses) werden mit derselben Aufmerksamkeit bedacht wie die grosse Frage, was «es» ist, was das Salz des Lebens ist, was Gott ist: Poesie, Bewegung, Stille, Liebe, Licht?
Im Zentrum steht Baurs Verbundenheit mit Amrain, seinen Bewohnern, Häusern, Geräuschen, Blumen und Bäumen – seiner Landschaft. Das Dorfleben wird betont nüchtern geschildert, ungeschönt, inklusive Unglück, Wahnsinn, Selbstmord. Der Tod ist zentral, und die Toten bleiben präsent in dieser Erzählung, aber der Tod ist eben auch eine Station im Kreislauf des Lebens.
Aus Baurs Erinnerungen und Abschweifungen werden wir immer wieder in die Oltner Strassen zurückgeholt. Bindschädler muss aufpassen, dass der unvorsichtige Baur, der sich selbst als «Phantast» bezeichnet, im Oltner Kleinstadtverkehr nicht vor ein Auto gerät. Schnürsenkel müssen gebunden werden, ein Mantel wird auf-, dann wieder zugeknöpft, das Wolkentreiben am Himmel will kommentiert sein, die Strassennamen notiert.
Der Rhythmus des Gehens und Stehens, des schweifenden Blicks spiegelt sich in der Sprache. Der Spaziergang ist kein blosser Vorwand für den Dia- respektive weitgehenden Monolog Baurs, den Bindschädler referiert; das mäandernde Gespräch selbst ist ein Gedanken-Gang, der sich assoziativ treiben lässt, von Momentaufnahmen des Spaziergangs weniger unterbrochen als begleitet und inspiriert.

(Mit Dank an Fritz R.)
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