Buch im Fokus #24 08.12.2024

Der sterbliche Gott

Kaum ein einzelnes Ereignis hatte grössere Konsequenzen für die Geschichte des 20. Jahrhunderts als die russische Oktoberrevolution von 1917. Jörg Baberowski erzählt die lange Vorgeschichte dieser Revolution quellennah und in grosser Ausführlichkeit. Er entfaltet das Panorama der russischen Gesellschaft mit Einblicken in das ganze Spektrum der politischen Positionen. «Der sterbliche Gott» ist ein treffender Titel: Die Herrschaft des Zaren legitimierte sich ursprünglich als gottgegebene, unabänderliche. In diesem Buch wird die schleichende, von Terror und Gegenterror begleitete Unterminierung der Selbstherrschaft geschildert. Man kommt bei der Lektüre nicht umhin, an Putin und das gegenwärtige Regime zu denken. Russland scheint die Autokratie trotz der erfolgreichen Revolution von 1917 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht abschütteln zu können. Lesen Sie hier die Besprechung dieses herausragenden historischen Werks.  *****

Zitat & Kommentar # 15 zeigt mit einer Passage aus «Der sterbliche Gott», wie sich schon das Russland der 1880er Jahre von westlichen Werten abzugrenzen versuchte.

 

 

Autor: Jörg Baberowski
Untertitel: Macht und Herrschaft im Zarenreich
Verlag: C.H. Beck
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-406-71420-7
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 1370
Sprache: Deutsch
MT Moritz T.

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Besprechung

«Der sterbliche Gott» zeichnet die Geschichte des russischen Zarenreichs nach, mit einem ersten Schwerpunkt bei Peter dem Grossen, der nicht zuletzt mit der Heranbildung eines grossen Heeres eine gewisse Homogenisierung des riesigen Reiches erlangte. Interessant schon hier die Orientierung an (West-) Europa, mit dem dieser Zar in Konkurrenz treten wollte.

Die Aufklärung und die französische Revolution stellten das Konzept der russischen Autokratie in Frage – die Geschichte des Zarentums spielt sich von da an noch verstärkt im Spannungsfeld von westlichem Einfluss und russischer Identität ab. Adlige Intellektuelle, Vorläufer der Intelligenzija, rezipierten eifrig Autoren wie Hegel oder Schelling und diskutierten die Implikationen für Russland. Nikolai I. hatte nach dem gescheiterten Aufstand der Dekabristen 1825 noch mit Repressionen für Stabilität im fragilen, äusserst heterogenen Reich gesorgt. Nach seinem Tod 1855 stand aber die Leibeigenschaft zur Disposition – es fand sich schlicht niemand mehr, der dieses Konzept entschieden verteidigen wollte, weder der neue Zar Alexander II. noch die Bürokratie, noch der Landadel. Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 schien den Weg in eine neue, reformistische Richtung zu weisen. Unter den Studenten radikalisierte sich derweil die Opposition gegen das Zarenregime, eine nihilistische Bewegung insofern, als dass sie kein Konzept dafür hatte, was nach dem mit Gewalt angestrebten Sturz des Zaren passieren sollte. Die Idee einer Verbindung mit den Arbeitern oder mit den Bauern war ein Wunschtraum. Es gab aber in liberal gesinnten Kreisen viel Verständnis für die Terroristen; die Autokratie befand sich ideologisch in der Defensive. Denn wie wollte man einer aufgeklärten Öffentlichkeit noch ernsthaft vermitteln, dass die Macht des Zaren gottgegeben war, und er sich niemanden zu verantworten hatte?

Das Zarenregime fand in den langen Jahren der Agonie nie mehr aus dieser Defensive und lieferte ein zunehmend verzweifeltes und aggressives Rückzugsgefecht. Das Problem des Zaren: sobald er seine Position offensiv vertrat, machte er sich verwundbar. Ein Gott-Gesandter darf nicht mit irdischen Argumenten hantieren. Die Zaren suchten Zuflucht in der Verbindung mit dem «Volk», vor allem mit den Bauern, die ihrerseits im Zaren einen Verbündeten gegen die Gutsherren sahen und gegen die Juden, gegen die sich Bauern in ihren Frustrationen in grauenhaften Pogromen wandten. Eine unheilige Allianz.

Die Terroristen töteten 1881 Alexander II.; damit beendeten sie auch den Reform-Kurs des Regimes. Unter Alexander III. setzte sich der konservative Minister Pobedonoszew gegen General Loris-Melkow durch, der eine konstitutionelle Monarchie angestrebt hatte. Im Rückblick erscheint dieser Moment als entscheidende Weichenstellung, die aber von Baberowski kaum als solche hervorgehoben wird.

Das Buch deckt eine Fülle von Themen ab, von den regionalen Autonomiebestrebungen (unter anderen in der Ukraine) über den häufig grausamen Umgang mit den verschiedenen Ethnien bis hin zur Erschliessung Sibiriens mit der transsibirischen Eisenbahn und dem Krieg gegen Japan 1904, den Nikolai II. mutwillig provozierte, in Verkennung der Stärkeverhältnisse.

Im Kern geht es aber immer darum, wie die Zaren versuchten, ihre Position und Macht zu stabilisieren. Der letzte Zar, Nikolai II., war Reformen grundsätzlich abgeneigt. Wenn er, wie im Kontext der Revolution von 1905, zu Kompromissen gezwungen war, versuchte er sie später zurückzunehmen, und unterminierte die Position seiner Ministerpräsidenten (erst Witte, später Stolypin), die den Reformkurs umzusetzen hatte. Witte wie auch Stolypin rieben sich zwischen den Fronten auf. Im Rückblick spielten die liberalen Kreise um Miljukow, Nabokov oder Struwe eine unrühmliche Rolle: Sie weigerten sich lange, an der Regierung zu partizipieren und verharrten in einer Fundamentalopposition, zusammen mit den Menschewiken und den Bolschewisten. Sie verkannten, dass die Gewaltwelle, die das Land erfasst hatte, auch sie wegzuschwemmen drohte. Sie wiegten sich in der Illusion, «das Volk» zu vertreten, dabei repräsentierten sie vor allem Akademiker und den Adel. Sie hatten weder zu den Arbeitern noch zu den Bauern eine starke Verbindung.

Eine der faszinierenden Aspekte dieses Buches sind die aufschlussreichen politischen Mini-Portraits, die nebenbei von wichtigen Protagonisten der russischen Geschichte entstehen wie eben von Witte und Stolypin, aber auch vom «Polizeisozialisten» Subatow oder vom «Arbeiterpriester» Gapon. In der gescheiterten Revolution von 1905 spielten die späteren Hauptfiguren Lenin und Trotzki eine unbedeutende Nebenrolle.    

Baberowski mutet seinen Lesern auf weit mehr als 1000 Seiten einiges zu. Er zitiert aus sehr vielen Quellen (das Verzeichnis am Ende des Buches weist mehr als 500 auf), die Fussnoten gehen in die Tausende. Das ist für ein an ein breites Publikum gerichtetes Werk ziemlich einzigartig und «Der sterbliche Gott» geht damit in eine Breite und Tiefe, die etwa Orlando Figes Standardwerk «Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924» nicht erreicht.

Der Autor schafft es, die vielen kleinen quellengespeisten Binnenerzählungen zu einer grossen Erzählung zu verknüpfen – eine auch sprachlich grossartige Leistung. Interessanterweise liefert der Autor eher wenig übergeordnete Einschätzungen oder Bewertungen. Es scheint, als ob der Autor das ein Stück weit den Lesenden überlassen will, die sich ein eigenes Bild machen können. Die Frage mag erlaubt sein, ob durch die weitgehende Vermeidung von vielleicht auch mal relativierenden Einordnungen aus einer Makroperspektive der Eindruck erzeugt wird, dass hier ein objektives Bild gezeichnet wird – was selbst ein so breit abgestütztes Werk ja nicht zu leisten vermag, in den vielen Mini-Erzählungen sind bei aller Ausgewogenheit subjektiv gefärbte Quellenauswahl und Interpretation unumgänglich.

Der Löwenanteil von «Der sterbliche Gott» ist der Zeit zwischen 1880 und 1914 gewidmet; es überrascht etwas, dass Baberowski den 1. Weltkrieg und die beiden Revolutionen von 1917 nicht auch noch abdeckt. Viele der im Buch gezeichneten Linien lassen sich über die Oktoberrevolution hinaus und bis in die Gegenwart ziehen. Wer sich für das Russland von gestern und das Russland von heute interessiert, wird in Zukunft nicht um Baberowskis Werk herumkommen.
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