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Besprechung
Gleich zu Beginn der Schock: Wojnicz findet auf dem Esstisch der Pension die Leiche der Frau seines Gastgebers, der behauptet, sie habe sich erhängt. Die Trauer des Witwers bewegt sich in engen, formelhaften Grenzen. «Das Leben muss weitergehen.» Er und seine Gäste sorgen sich jetzt vor allem darum, wer denn kochen soll. Nach dem Tod von Frau Opitz wohnen im «Gasthaus für Herren» ausschliesslich Männer.
Frauen allerdings sind das wichtigste Gesprächsthema der Kurgäste. In endlosen Dialogen duellieren sich August August und Longinus Lukas – Naphta und Settembrini grüssen vom Zauberberg herüber. So sehr sie sich in Fragen der Religion oder Politik widersprechen, in der Geringschätzung der Frauen sind sie sich einig. Tokarczuk flicht eine ganze Girlande von grotesk-misogynen Äusserungen ein, die sie von einer Reihe prominenter Männer der (Geistes-) Geschichte übernimmt, von Plato bis zu Sartre. Die im Roman fast vollständig abwesenden Frauen beunruhigen die Männer-Figuren zutiefst, als der Natur verhaftete, irrationale Wesen, die sie aber zugleich unwiderstehlich anziehen. In den Wäldern der Gebirgswelt basteln sich Köhler und Hirten «Tuntschis», Sexpuppen aus Ästen, Moos, Erde. Unter der Erde allerdings lauern gefährliche Empusen, weibliche Geisteswesen aus der griechischen Mythologie, die sich im Roman auch als Erzählinstanz entpuppen. Wenn der November kommt, dann findet jeweils ein blutiges «Empusion» statt, gewissermassen ein Pendant zu den vielen männlich dominierten Symposien des Romans mit (mindestens bei Wojnicz und dem Leser) Grauen erregenden Fleischspezialitäten, und viel Likör. Tokarczuk macht dem Genre des Schauerromans alle Ehre, mit einem geradezu hollywoodesken Finale.
Aber die Erzählung hat mehr zu bieten, beispielsweise ein Eintauchen in das ländliche Niederschlesien vor 100 Jahren, mit stimmig beschriebenen Details. Viele literarische Anspielungen, auch jenseits des «Zauberbergs», oder interessante kunstgeschichtliche Exkurse. Wojnicz freundet sich mit Thilo an, einem todgeweihten Patienten, der an einer Dissertation über die Bedeutung der Landschaft in der Kunst arbeitet. Er lehrt Wojnicz anhand eines Gemäldes des flämischen Meisters Herri met de Bles, dass man mit «transparentem Schauen» eine Landschaft ganz anders wahrnehmen kann – auch die zunehmend unheimliche des niederschlesischen Gebirges.
Wojnicz, Student der «Wasser- und Canalisationsbautechnik», ist ein eher stiller junger Mann mit auffällig weiblichen Zügen, die ihm sein Vater verzweifelt auszutreiben versucht hatte. Er ist ein Aussenseiter, der sich aber im Laufe des Romans emanzipiert, und schliesslich gänzlich verwandelt die Szenerie verlässt. Ermutigt wird er ausgerechnet von Kurarzt Dr. Semperweiss, der anfangs sehr unsympathisch erscheint, aber nach der – lange hinaus gezögerten – Enthüllung von Wojnicz' körperlicher «Anomalie» ihm freundschaftlich rät, sich seine eigene Fiktion zu schaffen, da auch die Realität der anderen nichts anderes sei als Fiktion. Das kann man auch als feministische Ermächtigungs-Botschaft der Autorin selbst verstehen, die die pseudo-rationalistische Diskurshoheit der Männer, die schon den «Zauberberg» prägte, in «Empusion» ins Absurde übersteigert und an der Roman-Realität zerschellen lässt.
Die Dichte und Vielschichtigkeit der «Jakobsbücher» (s. hier: https://lesart.blog/die-jakobsbuecher/ ) erreicht Olga Tokarczuk in diesem Roman nicht; das war vermutlich auch nicht die Ambition. «Empusion» bietet aber ein überaus unterhaltsames, allmählich ins Phantastisch-Schauerliche rutschendes Lese-Abenteuer.